Es dämmert..., ich sitze ihm gegenüber in seiner Stube. Wir versuchen unsere Gesichtszüge gegenseitig zu erkennen, während wir miteinander sprechen. Das ist allerdings äusserst schwierig, denn ich kann sie nicht mehr erkennen, wenn ich ihm etwas erzähle. Es befremdet mich, in was für einer dunklen Höhle mein Freund wohnt. Schliesslich gehe ich zu seinem Schreibtisch, der ebenfalls in seiner 1-Zimmer-Wohnung steht und zünde wenigstens diese Lampe an, wohl die einzige, die in diesem Raum noch funktioniert. Es ist nur eine kleine Lampe, aber es tut gut, die Gesichtszüge des anderen nun doch zu erkennen.
Vor Jahren habe ich ihn schon kennengelernt. Mein Freund ist manisch depressiv veranlagt und lebt ein Leben als Einzelgänger, ausser man besucht ihn. Eine Zeitlang sahen wir uns oft und ich erlebte die Licht- und Schattenseiten seiner Veranlagung. Dann veränderte sich meine Lebenssituation und wir verloren uns aus den Augen..., oder vielleicht besser: Ich wollte es nicht länger mit ansehen, wie man ihm nicht helfen konnte. Denn dann hätte ich den Kontakt wohl aufrecht erhalten.
Und nun ist es Jahre her, dass ich überhaupt mit ihm mal geredet habe. Ab und zu sah ich ihn vor dem grossen Kaufhaus im Dorf auf der Bank sitzen, manchmal verwahrlost, eher selten gepflegt. Aber zu einem Wortwechsel ist es da nie gekommen. Vielleicht auch weil ich nicht wollte.
Doch letzthin passierte es: Ich öffnete meine elektronische Agenda und sah seinen Namen. Sein Geburtstag brannte sich in meine Netzhaut. Ja, du lieber Mann! Wie es ihm wohl geht? Das Gewissen meldete sich wieder mal und kombiniert mit der Motivation, die ich in letzter Zeit in unserer Kirchgemeinde erfahren habe, nämlich den Nächsten zu lieben und ihm Gutes zu tun, einfach nur weil er es wert ist, nahm ich mir vor: "Dich überrasche ich am Geburtstag!"
So kam es, dass ich schliesslich einen Tag vor seinem Geburtstag ein Geschenk einpackte, ein Kärtchen schrieb und dieses dann am Morgen früh um 06:00 Uhr ihm in den Briefkasten legte. Die Karte unterschrieb ich nur mit dem Vornamen...., ob er mich wohl noch kannte? Nachdem ich dies abgeliefert hatte, fuhr ich zur Arbeit. Danach wollte ich aber ihm dann noch persönlich zum Geburtstag gratulieren. So kam es, dass ich am Spätnachmittag auf die Türglocke drückte, an der sein Name angebracht war. Ich hörte ein Rascheln in der Wohnung, ah, er ist da..., er ist nicht geflohen... jetzt steigt die Spannung. Wie wird er reagieren, wenn er mich sieht? Ich hatte ihm auf das Geburtstagsschreiben noch ein PS angefügt: "Entschuldige, dass ich mich solange nicht gemeldet habe. Es tut mir leid."
Die Tür öffnete sich und das erste, was ich sah, war das markante Gesicht meines Freundes, der mich freundlich bittend in die gute Stube bat. Ich trat ein und.... erschrak. Von wegen guter Stube. Das finstere Loch war ganz verqualmt. Die Stubenfenstertüre war sperrangelweit offen, aber der blaue Dunst trübte die Aussicht und es schien, als ob es nicht viel nützte, dass er im November die ganze Zeit lüftete. Zudem war es nicht sonderlich warm, was auch wiederum logisch war. Ich als Nichtraucher, schätzte diesen Umstand zwar nicht, aber konnte mich schnell damit abfinden. Mitten im Raum flimmerte der Fernseher, wo er gerade eine Sportübertragung verfolgte. Sonst sah die Wohnung noch genauso aus, wie beim letzten Besuch vor Jahren. Nur ein paar Papiertaschen mehr standen in einer Ecke und die Küchenablage war immer noch voll leerer PET-Flaschen. Das erste Mal regte sich der Gedanke in mir: "Wie kann man so nur leben?"
Schnell ordnete ich meine wirren Gedanken und holte den Schaumwein und was zum Knabbern hervor, um mit ihm auf sein Wiegenfest anzustossen. Sogar an die Sektgläser hatte ich gedacht, denn diese würde ich hier nicht erwarten können. Er war gerührt und bedankte sich für das grosszügige Geschenk und meinen Besuch. Wir stiessen an und ich wollte von ihm so wissen, was in den letzten Jahren alles so gelaufen ist, in der Erwartung, dass er mir viel zu erzählen hatte. Im Hintergrund flimmerte die Kiste weiter. Irgendwann hatte ich mich auch daran gewöhnt. Ich sass zwar mit dem Rücken zum Screen, aber ich merkte, wie sein Blick immer wieder auf die Übertragung wanderte. Ich war ernüchtert über seinen Bericht. Er erzählte mir nicht von Hobbies, von Unternehmungen oder sonst Dinge, die er anstellte. Nein, er erzählte mir den Wochenablauf und dass er von einem netten Mann der Spitex jeden Donnerstag besucht wurde, der mit ihm sprach und mit ihm einkaufen ging... und vermutlich noch andere Dinge für ihn erledigte. Mit einem Kichern bemerkte er dann noch: "Nein, ich mache nicht soviel, ich bin halt ein Stubenhocker - jawohl, ein Stubenhocker!" Und wieder vernahm ich die innere Stimme: "Wie kann man so nur leben?"
Natürlich wollte ich von ihm noch wissen, wie es ihm wirklich ging und so formulierte ich vorsichtig die Frage, ob er noch Wünsche habe, die er erfüllt haben wollte..., kurze Gedankenpause..., dann meinte er, dass er ganz zufrieden ist mit seiner Situation und wieder mit einem Kichern: "Eigentlich bin ich wunschlos glücklich!" Hääh? Höre ich da recht? Das kann doch nicht sein? Wie kann man in so einem Loch hausen, fast den ganzen Tag hier verbringen, nur kurz unterbrochen von "Cola holen" im nahen Discounter, und dann noch zufrieden, ja gar wunschlos glücklich sein. Ich akzeptierte seine Aussage soweit mal..., wenn auch misstrauisch.
Schliesslich erzählte ich ihm, wie ich momentan meinen Glauben und meine Beziehung zu Jesus erlebe und wie Jesus mir in letzter Zeit wirklich hilft, wenn ich ihn um Weisheit bitte (und das war nicht nur frommes Geschwätz, sondern mein reales Erleben). Ich erzählte ihm aber auch von meinem Scheitern in der neuen Kirchgemeinde und was ich daraus gelernt hatte. In der Hoffnung, nun ein wenig tiefer in sein wirkliches Seelenerleben einzudringen, fragte ich ihn, wie er denn seinen Glauben erlebte. Seine Antwort verblüffte mich. Vermutlich habe ich eine unsichere und vage Antwort oder ein alles sagendes Schweigen erwartet. Aber er sagte: "Ich lese im Moment in einem Andachtsbuch jeden Tag einen kleinen Abschnitt zu einem Bibelvers! Und immer wieder spüre ich, dass Gott bei mir ist und auch dass er mich hält und durchträgt."
Mein Misstrauen liess wieder die Frage "Wie kann man so nur leben?" kurz hochkommen. Aber auf einmal merkte ich es: Dieser Mann, der vom Leben so gezeichnet war, der viel Schwierigkeiten hat und mit viel Leid (auch selbstauferlegtes) umgehen muss, meint diese Aussage ganz ernst. Ich spürte, dass das Misstrauen einer stückweisen Verwirrtheit, aber auch Dankbarkeit wich. Doch ich konnte alles noch immer nicht richtig einordnen. Schliesslich bot ich ihm noch Gebet an, aber ich vermied es, ihn zu fragen, für was konkret ich für ihn bitten sollte, denn ich wusste ja, dass er zufrieden war mit seiner Situation - für mich unbegreiflich! Aber während ich betete merkte ich, wie er im Gebet mitging und zustimmendes Gemurmel ertönte. Ja, dieser Mann hat offenbar auch im blauen Dunst seiner Zigaretten und in der von defekten Lampen produzierten Dunkelheit und ihn all den Papiertüten eine innigere Beziehung zu Gott, als das ich mir das für ihn vorstellen konnte.
Mit welchem Recht denke ich: "Wie kann man so nur leben?"
Ganz offenbar lebt er! Zwar nicht mein Leben! Aber seins!
Die Frage müsste wohl eher heissen: Wie lebt Jesus mit ihm?
Da bin ich mir ziemlich sicher, wie die Antwort ausfallen würde:
"Och, wieso fragst du mich das? Ich habe ihn gern, wie jeder andere auf dieser Kugel. Er ist eigen, ja das stimmt! Aber das haben Originale so an sich! Aber ich schreibe meine Geschichte mit ihm weiter. Er ist ein guter Freund mir!"
Es grüsst ein nachdenklicher
Männerflüsterer
Und nun ist es Jahre her, dass ich überhaupt mit ihm mal geredet habe. Ab und zu sah ich ihn vor dem grossen Kaufhaus im Dorf auf der Bank sitzen, manchmal verwahrlost, eher selten gepflegt. Aber zu einem Wortwechsel ist es da nie gekommen. Vielleicht auch weil ich nicht wollte.
Doch letzthin passierte es: Ich öffnete meine elektronische Agenda und sah seinen Namen. Sein Geburtstag brannte sich in meine Netzhaut. Ja, du lieber Mann! Wie es ihm wohl geht? Das Gewissen meldete sich wieder mal und kombiniert mit der Motivation, die ich in letzter Zeit in unserer Kirchgemeinde erfahren habe, nämlich den Nächsten zu lieben und ihm Gutes zu tun, einfach nur weil er es wert ist, nahm ich mir vor: "Dich überrasche ich am Geburtstag!"
So kam es, dass ich schliesslich einen Tag vor seinem Geburtstag ein Geschenk einpackte, ein Kärtchen schrieb und dieses dann am Morgen früh um 06:00 Uhr ihm in den Briefkasten legte. Die Karte unterschrieb ich nur mit dem Vornamen...., ob er mich wohl noch kannte? Nachdem ich dies abgeliefert hatte, fuhr ich zur Arbeit. Danach wollte ich aber ihm dann noch persönlich zum Geburtstag gratulieren. So kam es, dass ich am Spätnachmittag auf die Türglocke drückte, an der sein Name angebracht war. Ich hörte ein Rascheln in der Wohnung, ah, er ist da..., er ist nicht geflohen... jetzt steigt die Spannung. Wie wird er reagieren, wenn er mich sieht? Ich hatte ihm auf das Geburtstagsschreiben noch ein PS angefügt: "Entschuldige, dass ich mich solange nicht gemeldet habe. Es tut mir leid."
Die Tür öffnete sich und das erste, was ich sah, war das markante Gesicht meines Freundes, der mich freundlich bittend in die gute Stube bat. Ich trat ein und.... erschrak. Von wegen guter Stube. Das finstere Loch war ganz verqualmt. Die Stubenfenstertüre war sperrangelweit offen, aber der blaue Dunst trübte die Aussicht und es schien, als ob es nicht viel nützte, dass er im November die ganze Zeit lüftete. Zudem war es nicht sonderlich warm, was auch wiederum logisch war. Ich als Nichtraucher, schätzte diesen Umstand zwar nicht, aber konnte mich schnell damit abfinden. Mitten im Raum flimmerte der Fernseher, wo er gerade eine Sportübertragung verfolgte. Sonst sah die Wohnung noch genauso aus, wie beim letzten Besuch vor Jahren. Nur ein paar Papiertaschen mehr standen in einer Ecke und die Küchenablage war immer noch voll leerer PET-Flaschen. Das erste Mal regte sich der Gedanke in mir: "Wie kann man so nur leben?"
Schnell ordnete ich meine wirren Gedanken und holte den Schaumwein und was zum Knabbern hervor, um mit ihm auf sein Wiegenfest anzustossen. Sogar an die Sektgläser hatte ich gedacht, denn diese würde ich hier nicht erwarten können. Er war gerührt und bedankte sich für das grosszügige Geschenk und meinen Besuch. Wir stiessen an und ich wollte von ihm so wissen, was in den letzten Jahren alles so gelaufen ist, in der Erwartung, dass er mir viel zu erzählen hatte. Im Hintergrund flimmerte die Kiste weiter. Irgendwann hatte ich mich auch daran gewöhnt. Ich sass zwar mit dem Rücken zum Screen, aber ich merkte, wie sein Blick immer wieder auf die Übertragung wanderte. Ich war ernüchtert über seinen Bericht. Er erzählte mir nicht von Hobbies, von Unternehmungen oder sonst Dinge, die er anstellte. Nein, er erzählte mir den Wochenablauf und dass er von einem netten Mann der Spitex jeden Donnerstag besucht wurde, der mit ihm sprach und mit ihm einkaufen ging... und vermutlich noch andere Dinge für ihn erledigte. Mit einem Kichern bemerkte er dann noch: "Nein, ich mache nicht soviel, ich bin halt ein Stubenhocker - jawohl, ein Stubenhocker!" Und wieder vernahm ich die innere Stimme: "Wie kann man so nur leben?"
Natürlich wollte ich von ihm noch wissen, wie es ihm wirklich ging und so formulierte ich vorsichtig die Frage, ob er noch Wünsche habe, die er erfüllt haben wollte..., kurze Gedankenpause..., dann meinte er, dass er ganz zufrieden ist mit seiner Situation und wieder mit einem Kichern: "Eigentlich bin ich wunschlos glücklich!" Hääh? Höre ich da recht? Das kann doch nicht sein? Wie kann man in so einem Loch hausen, fast den ganzen Tag hier verbringen, nur kurz unterbrochen von "Cola holen" im nahen Discounter, und dann noch zufrieden, ja gar wunschlos glücklich sein. Ich akzeptierte seine Aussage soweit mal..., wenn auch misstrauisch.
Schliesslich erzählte ich ihm, wie ich momentan meinen Glauben und meine Beziehung zu Jesus erlebe und wie Jesus mir in letzter Zeit wirklich hilft, wenn ich ihn um Weisheit bitte (und das war nicht nur frommes Geschwätz, sondern mein reales Erleben). Ich erzählte ihm aber auch von meinem Scheitern in der neuen Kirchgemeinde und was ich daraus gelernt hatte. In der Hoffnung, nun ein wenig tiefer in sein wirkliches Seelenerleben einzudringen, fragte ich ihn, wie er denn seinen Glauben erlebte. Seine Antwort verblüffte mich. Vermutlich habe ich eine unsichere und vage Antwort oder ein alles sagendes Schweigen erwartet. Aber er sagte: "Ich lese im Moment in einem Andachtsbuch jeden Tag einen kleinen Abschnitt zu einem Bibelvers! Und immer wieder spüre ich, dass Gott bei mir ist und auch dass er mich hält und durchträgt."
Mein Misstrauen liess wieder die Frage "Wie kann man so nur leben?" kurz hochkommen. Aber auf einmal merkte ich es: Dieser Mann, der vom Leben so gezeichnet war, der viel Schwierigkeiten hat und mit viel Leid (auch selbstauferlegtes) umgehen muss, meint diese Aussage ganz ernst. Ich spürte, dass das Misstrauen einer stückweisen Verwirrtheit, aber auch Dankbarkeit wich. Doch ich konnte alles noch immer nicht richtig einordnen. Schliesslich bot ich ihm noch Gebet an, aber ich vermied es, ihn zu fragen, für was konkret ich für ihn bitten sollte, denn ich wusste ja, dass er zufrieden war mit seiner Situation - für mich unbegreiflich! Aber während ich betete merkte ich, wie er im Gebet mitging und zustimmendes Gemurmel ertönte. Ja, dieser Mann hat offenbar auch im blauen Dunst seiner Zigaretten und in der von defekten Lampen produzierten Dunkelheit und ihn all den Papiertüten eine innigere Beziehung zu Gott, als das ich mir das für ihn vorstellen konnte.
Mit welchem Recht denke ich: "Wie kann man so nur leben?"
Ganz offenbar lebt er! Zwar nicht mein Leben! Aber seins!
Die Frage müsste wohl eher heissen: Wie lebt Jesus mit ihm?
Da bin ich mir ziemlich sicher, wie die Antwort ausfallen würde:
"Och, wieso fragst du mich das? Ich habe ihn gern, wie jeder andere auf dieser Kugel. Er ist eigen, ja das stimmt! Aber das haben Originale so an sich! Aber ich schreibe meine Geschichte mit ihm weiter. Er ist ein guter Freund mir!"
Es grüsst ein nachdenklicher
Männerflüsterer